Yoga in Deutschland. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – Dr. Fuchs im Interview

Yoga in Deutschland. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
Yoga in Deutschland. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
Dr. Christian Fuchs im Unterricht

WARNUNG: Es gibt viel zu lesen und noch mehr zu lernen! 

Als ich über den gegenseitigen Einfluss von Yoga und digitalen Medien im Raum Berlin forschte, habe ich mit Dr. Christian Fuchs ein Interview durchgeführt. Das Interview ging nicht in die Auswertung, denn das Thema war geografisch begrenzt. Es ging mir viel mehr um die Meinung eines Experten. Später habe ich ihn um ein Interview gebeten, das veröffentlicht werden sollte. Das hier ist das Ergebnis. 


atha yoga-anuśāsanam 

Das vorliegende Interview mit Dr. Crhistian Fuchs, wage ich mit dem ersten Satz von Patanjali anzufangen, denn wer sich mit Yoga in Deutschland, egal auf welche Weise, beschäftigen möchte, sollte das Werk von Dr. Fuchs kennen. Sein Werk ist ein wichtiger Eckstein der Yoga Geschichte Deutschlands und des Westens. 

Dr. Fuchs, stellen Sie sich bitte vor?

Ich lebe mit meiner Familie seit fast 20 Jahren in Bad Boll, einem attraktiven Kurort am Fuß der schwäbischen Alb. Dort bilden meine Frau und ich in unserer „Yoga-Akademie“ Yogalehrende aus und geben regelmäßige Yogakurse. Gleichzeitig faszinieren mich nach wie vor die Entwicklung des Yoga im Westen und – mehr denn je – die ganzheitlichen Konzepte der Yogaphilosophie.

Was ist Ihre erste Erinnerung an Yoga?

Rudolf Fuchs (Vater)

Mein Vater, der immer noch als Yogalehrer aktiv ist, gründete 1965 seine Yogaschule. Damals war ich 10 Jahre alt und verstand noch nicht wirklich etwas von diesem Thema. Aber ich bin immer wieder mal in seinen Unterricht gegangen und konnte dadurch in dort herrschende, besondere Stimmung eintauchen. Diese Erfahrung, dass es plötzlich innen wie außen „ganz still“ werden kann, gehört zu meinen ersten bewussten Yoga-Erinnerungen.

Mit der Pubertät begann dann bei mir eine Phase, in der ich mich erst einmal vom Yoga abgewandt habe. Ich wurde sehr politisch und wollte die Welt durch Revolution verändern. Als ich dann 1977 mit dem Studium in Tübingen begann, ging es mir physisch und psychisch nicht besonders gut. Ich suchte Hilfe bei der Psychotherapie und bei verschiedenen religiösen Bewegungen; alles ohne durchschlagenden Erfolg. In meiner Not besann ich mich meiner früheren positiven Erfahrungen mit Yoga und nahm zunächst Stunden bei einer Yogalehrerin in Esslingen. Durch sie konnte ich auch wieder Zugang zum Unterricht meines Vaters finden, wo ich dann auch eine Yogalehrausbildung absolviert habe.

 

Und Berlin, wann/was ist ihre erste Erinnerung an Yoga in Berlin?

An Berlin habe ich eine sehr schöne yogabezogene Erinnerung: Dort fand ab 1991 der erste „gesamtdeutsche“ Ausbildungslehrgang des BDY mit über 40 Teilnehmenden statt. Im Rahmen meiner Dozententätigkeit in diesem Lehrgang lernte ich meine heutige Frau kennen und lieben :).

Yoga in Deutschland. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
Yoga Akademie in Bad Boll

Yoga in Deutschland. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

Vor fast 30 Jahre haben Sie über das Thema Yoga in Deutschland promoviert, beschreiben Sie uns bitte die Lage des Yoga in Deutschland damals?

Als meine Dissertation im Sommer 1989 fertig wurde, war Deutschland noch geteilt und es gab zwei ganz unterschiedliche Yoga-Landschaften in der Bundesrepublik und in der DDR. Während in Ostdeutschland damals schon großer Wert auf solide Forschungen zum Thema Yoga gelegt wurde (so mussten und konnten sich die Yogalehrenden in der DDR gegenüber den staatlichen Instanzen legitimieren), steckten entsprechende Entwicklungen im Westen noch großenteils in den Kinderschuhen. Auch war seinerzeit der Einfluss amerikanischer Entwicklungen auf die (west-)deutsche Yoga-Szene noch wesentlich geringer.

Sie haben eine chronologische Entwicklung von Yoga in Deutschland schon damals vorgeschlagen, können Sie diese Entwicklung kurz zusammenfassen? Dazu noch: wie würden Sie die letzte Entwicklungen bezeichnen?

 

Nicht allen ist bewusst, dass das Praktizieren von Yoga hierzulande eine lange Tradition hat. Die deutsche Yoga-Geschichte lässt sich bis heute grob in sieben Phasen unterteilen:

  • Der Beginn der Yoga-Rezeption fällt ins letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Ab 1875 bemühten sich führende Theosophen (wie H.P.Blavatsky), den Yoga zu „importieren“, während gleichzeitig einzelne Inder mit einem „Export“ yogischer Ideen und Praktiken begannen. Berühmt geworden ist etwa die Rede, die der indische Svami Vivekananda 1893 auf dem „Weltparlament der Religionen“ über Yoga hielt, Dabei ist allerdings festzuhalten, dass sowohl Frau Blavatsky wie auch Svami Vivekananda den heute populären Hatha-Yoga für westliche Menschen strikt ablehnten und stattdessen (nur) die geistigen Techniken des Yoga empfahlen.

 

  • Ab der Wende zum 20.Jahrhundert folgte eine erste Welle der Popularisierung des Yoga (bis 1945). Während noch vor dem ersten Weltkrieg – neben den Theosophen – vor allem „Okkultisten“ und für östliche Spiritualität aufgeschlossene Zeitgenossen Interesse am Yoga bekundeten (Hermann Hesse, Gustav Meyrink u.a.), gab es in den 1920er und 1930er Jahren auch zunehmend Mediziner und Psychologen, die Theorie und Praxis des Yoga studierten. Der berühmte Begründer des „Autogenen Trainings (AT)“, der Berliner Nervenarzt J.H. Schultz, etwa ließ sich vor allem bei der Oberstufe seines AT stark vom Yoga inspirieren. Gleichzeitig gründeten Mitte/Ende der 1930er Jahre der Südinder Selvarajan Yesudian in Budapest und der Exilrusse Boris Sacharow in Berlin private Yogaschulen, in denen regelmäßige Kurse stattfanden. Damit war der Yoga-Unterricht moderner Prägung geboren.
Bad Boll – das Panorama
  • Es folgte eine Zwischenphase vor allem literarischer Yoga-Aktivitäten bis Ende der 1950er Jahre. Nach Ende des zweiten Weltkriegs waren es Autoren wie Yesudian, Sacharow, Heinrich Jürgens, Felix Riemkasten und Hans-Ulrich Rieker, die in ihren Büchern die Yoga-Flamme für eine eher kleine Schar von interessierten Lesern am Leben erhielten. Die Mehrzahl der Westdeutschen war in jener Zeit auf Wiederaufbau und „Wirtschaftswunder“ ausgerichtet.

 

  • Die 1960er Jahre läuteten eine Trendwende ein. Es kam in der Bundesrepublik zur vermehrten Gründung privater Yogaschulen; eine Tendenz, die sich mit der aufkommenden „68er-Bewegung“ massiv verstärkte. Als die Beatles im Februar 1968 ins nordindische Rishikesh kamen und dort im Maharishi-Ashram meditierten, war die Welle der Institutionalisierung und Organisation der Yogaszene hierzulande schon voll im Gange. Die zunehmende Zahl der in Westdeutschland tätigen Yogalehrkräfte begann sich intensiv auszutauschen und zu vernetzen. So wurde im Mai 1967 in Berlin der „Berufsverband der Yogalehrenden in Deutschland“ (BDY) als erster deutscher Yogaverband gegründet. Und im Januar 1975 titelte der „Spiegel“ dann bereits: „Volkssport Yoga – Heil aus dem Osten?“.

 

  • Dieser Phase schloss sich eine Periode der Professionalisierung der westdeutschen Yoga-Szene an, die von etwa 1979-1990 dauerte. Mit „Professionalisierung“ ist gemeint, dass sich in dieser Zeit die großen Yoga-Verbände – aber auch andere Institutionen – um eine Standardisierung und qualitative Sicherung der Ausbildung zum/zur Yogalehrer/in bemühten. Damit einher ging der Versuch, staatliche Anerkennung für bestimmte Ausbildungsgänge zu erlangen oder zumindest verbindliche „Mindestanforderungen“ für die Zulassung zum Yogalehr-Beruf durchzusetzen.

 

  • Mit der deutschen Wiedervereinigung im Herbst 1990 standen auch die Yoga-Szenen in Ost- und Westdeutschland vor der spannenden Aufgabe, sich kennenzulernen und gegenseitig zu durchdringen. Im November 1993 fand in Leipzig der erste „gesamtdeutsche Yoga-Kongress“ statt, der gemeinsam von dem schon zu DDR-Zeiten gegründeten „Arbeitskreis Yoga-Darshana“ und dem BDY veranstaltet wurde. Gleichzeitig beobachten wir in dieser Zeit eine beginnende Kommerzialisierung der westlichen Yoga-Szene, die sich seit der Jahrtausendwende massiv verstärkt hat. Neben den zahllosen privaten Yogaschulen haben inzwischen viele andere, vor allem kommerziell ausgerichtete Einrichtungen Yoga in ihrem Programm. Besonders Sport- und Fitnessstudios haben Yogakurse längst als lukrative Einnahmequelle erkannt. Ob in diesen Fitness-Angeboten noch etwas vom ganzheitlichen Geist des Yoga steckt, ist allerdings eine ganz andere Frage.

 

  • Eine neuere Entwicklung, die ich noch ansprechen möchte, ist die Vertrendung“ des Yoga. Damit meine ich die Tendenz der letzten Jahre, ständig neue Yoga-Trends und Stile zu kreieren. Fast monatlich werden wir mit „hippen“ Yoga-Formen konfrontiert; von „Yoga auf dem Surfbrett“ über „Nackt“- und „Bondage-Yoga“ bis zu „Yoga mit Ziegen (Goat-Yoga)“ – um nur einige augenfällige Beispiele zu nennen – gibt es kaum eine neue Yoga-Form, die noch nicht „erfunden“ wurde. Dass die allermeisten dieser „hippen“ Yoga-Trends aus den USA zu uns kommen, lässt nicht nur Szenekenner schmunzeln.

 

Und wie sah Yoga in Berlin damals aus?

Wie schon gesagt, hatte Boris Sacharow bereits im Berlin der 1930er Jahre eine Yogaschule mit wöchentlichen Kursen betrieben. In gewisser Weise begründete er damit auch die Berliner Yoga-Szene. Während in der Zeit der deutschen Teilung interessanterweise München die Hochburg der (west)deutschen Yoga-Bewegung war, hat Berlin diese Funktion nach dem Vereinigungsprozess wieder übernommen.

Dr. Fuchs, wie würden Sie Yoga in Deutschland heute beschreiben?

Die heutige deutsche Yoga-Szene ist sehr heterogen. Neben „traditionellen“ Yogaschulen, die großen Wert auf eine ganzheitliche und spirituell-ausgerichtete Vermittlung des Yoga legen, gibt es zahlreiche Institutionen mit eher kommerziell-ausgerichteten Yoga-Angeboten. Neben Yogaschülern, die ihrer Lehrerin oder ihrem Lehrer über Jahre treu bleiben, gibt es Yoga-Übende, die gerne von Kurs zu Kurs und von Lehrkraft zu Lehrkraft „hoppen“. Neben Einrichtungen, die sich eher an hinduistisch-inspirierten Formen und Inhalten im Yoga orientieren, gibt es solche, die sich weltanschaulich-neutral begreifen, oder solche, die Yoga sogar im Kontext einer christlichen Konfession vermitteln (etwa Yoga in Klöstern). Neben Yogaschülern, die seit Jahrzehnten einem „klassischen“ Yoga-Stil folgen, gibt es Übende, die begeistert jeden „hippen“ Yoga-Trend aufgreifen. Mit anderen Worten: Es gibt in der heutigen deutschen Yoga-Szene (fast) nichts, was es nicht gibt. Die hiesige Yoga-Landschaft ist in den letzten Jahren wesentlich bunter und unübersichtlicher geworden. Darin liegen Chancen und Risiken.

Yoga in Deutschland. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
Yoga Akademie in Bad Boll – den Ausblick

Und quo vadis Yoga in Deutschland? Wagen Sie sich eine Prognose zu geben?

Die Chancen der gegenwärtigen Situation sehe ich vor allem in der Vielzahl der Angebote und Möglichkeiten für Yoga-Anhänger; im praktischen Übungsbereich genauso wie in den gelehrten Inhalten. Allerdings beinhaltet diese Chance auch das Risiko der Beliebigkeit und Oberflächlichkeit. Wenn der Yoga tiefer gehen soll, dann fordern (nicht nur) die klassischen indischen Yoga-Texte vom Schüler eine gewisse Verbindlichkeit im Einlassen auf den Yoga. Sehr kritisch sehe außerdem ich eine Entwicklung, die sich schon seit ein paar Jahren abzeichnet: die zunehmende Verzweckung des Yoga. Damit meine ich nicht nur die Tendenz, die Yoga-Praxis ausschließlich an ihrer profanen Nützlichkeit auszurichten; im Sinne von: „Wozu ist diese Yoga-Haltung gut“, „Welche Übung hilft mir gegen Kopfschmerzen“ und ähnliches. Das ist etwa so, wie es eine Kollegin mal bildhaft auszudrücken versuchte: „Wer im Yoga nur die Nützlichkeit der Übungen im Sinne hat, ist wie jemand, der die Bananenschale isst, aber die reife Frucht wegwirft.“ – Es gibt eine Entwicklung, die mir noch viel mehr Sorgen bereitet: Immer mehr Arbeitgeber bieten ihren Angestellten (teils kostenlose) Yogakurse, damit diese „schön gesund und fit bleiben“! Persönliche Krisen sollen vermieden, Krankheiten weitgehend ausgemerzt werden, damit alle möglichst gut „funktionierend“ im beruflichen Hamsterrad bleiben. Damit wird ausgerechnet der Yoga, der wie kaum ein anderes System für Freiheit, Würde und Selbstbestimmung steht, zu einem Vehikel für das Unterdrücken oder Verschleppen wichtiger persönlicher Prozesse missbraucht. Allerdings haben die Befürworter einer solchen Verzweckung des Yoga die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Yoga, das ist heute meine feste Überzeugung, lässt sich auf Dauer nicht missbrauchen. Im Yoga-Prozess entstehen fast zwangsläufig Erkenntnisse und Impulse, die Lege artis – also kunstgerecht – Entwicklungen in Richtung von mehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung in Gang setzen. Das gibt zumindest mittel- und langfristig Hoffnung!

Was würden Sie

  1. einem Lehrer,

  2. einem Anfänger und

  3. einem erfahrenen Praktiker heute raten? Was ist das wesentliche, wenn es um Yoga geht?

Einem Lehrer würde ich raten, was schon die alten Yoga-Texte betonen: „Es gibt im Yoga kein Lehrer-Sein ohne sich gleichzeitig auch als Schüler zu begreifen.“ Oder, anders ausgedrückt: Yoga-Geist ist Anfänger-Geist!

Einem Anfänger würde ich empfehlen: Suche Dir eine/n Lehrer/in, prüfe ihn oder sie sorgfältig und bleibe dort, wo du angekommen bist, eine längere Weile. Gehe mit deinem Lehrer durch die notwendigen Höhen und Tiefen des Weges und halte den Herausforderungen stand. Die Arbeit am eigenen Ego ist allemal eine Herausforderung!

Einen erfahren Praktiker würde ich fragen: Bist du deinem inneren Lehrer schon begegnet? Auf den äußeren folgt irgendwann der innere Lehrer. Wenn dein Schiff sich dem Hafen nähert, dann wird es Zeit, dass der Kapitän das Steuer an den Lotsen übergibt. Der Lotse bringt das Schiff sicher nach Hause!

Yoga in Deutschland. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
Dr. Fuchs, 2011 in Südindien
Redaktion von Yoga in Berlin - das Triebwerk der Yogaszene Berlins

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